Die Februar-Ausgabe des Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatts wäre der breiteren Öffentlichkeit vermutlich ebenso unbekannt geblieben, wie alle übrigen Hefte – hätte die bayerische evangelische Landeskirche (ELKB) nicht eine Unterlassungserklärung an die Redaktion geschickt. Es geht um einen Artikel des evangelischen Pfarrers Klaus Spyra, überschrieben mit "Ich habe jegliches Vertrauen in die ELKB verloren". Spyra ist Missbrauchs-Betroffener – und die Geschichte reichlich kompliziert.

Betroffener wurde in Kinderheim vergewaltigt

Zunächst: Klaus Spyra war in den 1960er-Jahren als Kind im Nicolhaus in Willmars in der bayerischen Rhön untergebracht – einem Kinderheim in Trägerschaft eines örtlichen Diakonievereins. Spyra wurde dort mehrfach und schwer von einem als Heimleiter eingesetzten Diakon vergewaltigt. Der sexuelle Missbrauch ist seit 2015 aktenkundig, die Anerkennungskommission von Kirche und Diakonie hat ihm auch Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids zugesprochen. Und ab diesem Zeitpunkt gehen die Schilderungen auseinander.

Spyra behauptet in seinem Text, dass Kirche und Diakonie die Aufklärung seines Falls - oder besser gesagt: die Suche nach weiteren Tätern, Tatorten und Betroffenen – allerhöchstens halbherzig vorangetrieben hätten. Nach Recherchen des Bayerischen Rundfunks (BR) gibt es mindestens einen weiteren Betroffenen desselben Täters. Der Diakon, sofern er überhaupt noch lebt, müsste über 90 Jahre alt sein. Doch nach seinem Austritt aus einer hannoverschen Diakonen-Bruderschaft in den 1990er-Jahren fehlt von ihm jede Spur.

Diakonie erfährt 2021 erstmals von dem Fall

Die Diakonie Bayern habe Ende 2021 erstmals von dem Fall erfahren, sagt die heutige Diakonie-Präsidentin Sabine Weingärtner, die damals noch nicht im Amt war. Im Juni 2022 drehte der BR im Nicolhaus einen Beitrag dazu. Der Diakonie-Pressesprecher unterstützte den kleinen Diakonieverein vor Ort und machte nach eigenen Aussagen deutlich, "was Aufarbeitung in so einem Fall bedeutet". Die Vereinsverantwortlichen hätten damals zugesichert, alle noch vorhandenen Akten nach potenziellen Tätern und Betroffenen zu sichten.

Laut Spyra, der am TV-Beitrag 2022 beteiligt war, ist danach nicht viel geschehen. Auch Diakonie-Chefin Weingärtner sagt: "Nach jetzigem Kenntnisstand ist nicht genug passiert." Man habe aus dem "Fall Willmars" gelernt, dass es "nicht ausreicht, eindrücklich auf etwas hinzuweisen - wir müssen da als bayerische Diakonie am Ball bleiben und regelmäßig nachfragen", betont sie. Sie könne aber auch "gar nicht verstehen", dass der Diakonieverein nicht mehr unternommen oder beim Landesverband um Unterstützung gebeten habe.

Der Diakonieverein in Willmars wird von Ehrenamtlichen geleitet – dass die mit diesem Thema vermutlich überfordert sind, will niemand so richtig bemerkt haben. Allerdings haben sie auch nicht um Hilfe gerufen, als ihre ersten Rechercheversuche bei der Diakonen-Bruderschaft des Stephansstift Hannover ins Leere liefen. Die damalige Leitung der Bruderschaft mauerte.

BR findet zweiten Betroffenen

Während die Diakonie an diesem Punkt schnell klein beigab, war es für Journalisten des BR offenbar in den vergangenen Wochen kein Problem, einen zweiten Betroffenen zu finden. Dieser habe sich erst nach dem Kontakt mit dem BR bei den zuständigen Stellen von Kirche und Diakonie gemeldet. Laut BR-Recherchen waren der Bruderschaft die Neigungen des Diakons bereits bekannt, als er Heimleiter in der Rhön wurde. Trotz Nachfrage wurde die Diakonie Bayern damals aber nicht gewarnt, sagt der Historiker Steffen Meyer im BR-Beitrag.

Die Landeskirche sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) derweil auf Anfrage, weshalb sie gegen den Text im Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt juristisch vorgegangen ist. Der Text von Spyra enthalte "eine Reihe von falschen Tatsachenbehauptungen". Zu Details in "laufenden juristischen Sachverhalten" könne man sich nicht äußern. Die Landeskirche betont, dass die Anerkennungskommission den Fall "sorgfältig, korrekt und mit dem nötigen Einfühlungsvermögen behandelt" habe. Alles Weitere falle in die Zuständigkeit der Diakonie.

Diakonie: Sind keine Ermittlungsbehörde

Diakonie-Präsidentin Weingärtner wiederum fragt dazu: "Welchen Auftrag haben wir denn?" Die Diakonie sei keine Ermittlungsbehörde, das sei Aufgabe der Staatsanwaltschaften.

"Wenn jeder die Verantwortung, die er hat, auch wahrnimmt, dann wären wir schon viel weiter."

Das bedeutet: Im Fall Willmars hat augenscheinlich nicht jeder die ihm übertragen Verantwortung auch übernommen. "Aus Perspektive der Betroffenen muss das katastrophal sein - auch weil es eine gewisse Hilflosigkeit der Institution offenbart", sagt Weingärtner.

Wie es nun weitergeht im Fall Spyra, der eigentlich ein Fall Willmars oder noch viel mehr ein Fall Stephansstift ist? Der Druck auf Diakonieverein und Stephansstift dürfte weiter wachsen - mit dem Fall vertraute Personen erwarten nicht, dass es bei zwei Betroffenen bleibt. Der Diakon war wohl ein Mehrfachtäter. Und er musste Mitwisser gehabt haben. Etwa die Mitarbeiterinnen, die nach den Übergriffen die Kinder verarzten mussten. Spuren zur Aufklärung sind vorhanden.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden