Expert*innen sehen Kinder- und Jugendspiele heute kritischer als das lange der Fall war. So sorgte kürzlich ein Artikel von uns für Empörung, in dem eine Autorin, selbst Teamerin und in der Jugendarbeit tätig, das Spiel Kartenrutschen empfohlen hatte.

Wir passten den Artikel daraufhin an, wollten aber auch wissen, was genau das Problematische an dem Spiel ist. Darüber und über die heutigen Aufgaben von Jugendleiter*innen haben wir mit Lucas Kalczynski gesprochen. Der 22-jährige Biologiestudent ist Teamer in der Konfi-Arbeit. Seine Kirchengemeinde in Grünwald hat seit Juli 2023 ein Schutzkonzept gegen Missbrauch und Grenzüberschreitungen.

"Es ist wichtig, dass jeder sagen kann, wenn er sich unwohl fühlt."

Bei welchen Kinder- und Jugendspielen kann es zu Problemen mit Grenzüberschreitungen kommen?

Lucas Kalczynski: Vor allem für jüngere Kinder kann es schwierig sein zu sagen, wenn sie sich unwohl fühlen. Deshalb ist es wichtig, dass jeder sagen kann, wenn er sich unwohl fühlt, und dass das Spiel entsprechend angepasst werden kann. Die Spielleitung betont immer wieder, dass es in Ordnung ist, das Spiel zu verlassen oder eine Runde zu unterbrechen. So wird sichergestellt, dass die Gruppe akzeptiert, dass jeder seine Grenzen respektiert und dass Spiele mit viel Körperkontakt gespielt werden können. Zum Beispiel auch Spiele wie der "Gordische Knoten", bei dem man sich berührt.

Also weg vom Konzept des Spielverderbers?

Wichtig ist, dass man sich nicht ausgeschlossen fühlt, wenn man sagt, dass es einem unangenehm ist, auf dem Schoß eines anderen zu sitzen. Gerade in Konfirmandengruppen, wie wir sie vor allem haben, ist das schwierig, weil die Teilnehmer oft aus verschiedenen Schulen und Orten kommen und sich nicht unbedingt gut kennen. Das Vertrauensverhältnis in der Gruppe ist ein anderes als bei Kindern, die sich schon seit Jahren kennen. Gerade auf Konfi-Freizeiten, wo sich die Teilnehmer erst kennenlernen, ist es schwierig zu akzeptieren, dass man nicht als Spielverderber gilt, wenn man ein Spiel abbricht. Deshalb versuchen wir Spiele mit engem Körperkontakt generell zu vermeiden, wenn unsere Gruppendynamik noch nicht gefestigt genug ist, um solche Spiele zu spielen, ohne dass sich jemand unwohl fühlt.

"Gruppendynamiken sind komplex und es ist wichtig, sie richtig zu steuern."

Was müssen Gruppenleiter beachten?

Als Gruppenleiter ist es wichtig zu erkennen, ob sich die Gruppe mit solchen Spielen wohlfühlt. Wenn jemand eine Gruppe leitet, die sich seit Jahren kennt und alle damit einverstanden sind, finde ich es nicht schlimm, solche Spiele zu spielen. Aber für mich persönlich und für Gruppen, deren Dynamik nicht passt, sollten Spiele mit engem Körperkontakt vermieden werden. Als Jugendleiter muss man diese Entscheidung treffen können. Jugendleiter sollten daher eine Grundausbildung haben oder wissen, wie sie mit solchen Situationen umgehen können. Unser Schutzkonzept ist großartig und auf andere Gemeinden übertragbar.  Gruppendynamiken sind komplex und es ist wichtig, sie richtig zu steuern. Mit diesem Werkzeug kann man jedes Spiel spielen, wenn man die Gruppendynamik richtig einschätzen kann.

Körperkontakt ist demnach kein Problem, sondern es kommt auf den Kontext an?

Ja, wenn sich eine Gruppe gut kennt, dann ist das kein Problem, denn man hat oft schon ein Gespür dafür, was die Gruppe gerne spielt und wie viel Körperkontakt die Kinder möchten. Es gibt jedoch immer einige Kinder, die weniger Körperkontakt mögen, und in solchen Fällen kann man die Gruppe aufteilen. Man könnte zum Beispiel zwei Spiele zur Auswahl stellen und die Kinder selbst entscheiden lassen, welches sie spielen möchten. Für diejenigen, die ein bestimmtes Spiel nicht spielen möchten, bietet man eine Alternative an. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass viele Kinder gerne im Freien spielen, aber einige fühlen sich unwohl dabei. In solchen Fällen bieten wir eine Indoor-Alternative an, wie das Spielen von Billard im Keller oder ähnliches. Es geht darum, kreativ zu sein, die Gruppendynamik zu verstehen und den Tagesplan anzupassen.

"Zum Beispiel betrachte ich es als Grenzverletzung, wenn Teilnehmer Snapchat-Videos von anderen machen, ohne deren Einverständnis."

Es geht darum, rechtzeitig Grenzen zu setzen?

Genau, wenn man präventiv Grenzen setzt und klare Regeln aufstellt, kommt es oft gar nicht erst zu Problemen. Zu Beginn jeder Freizeit erläutere ich unsere Ideen und Regeln für ein angemessenes Verhalten. Wir legen besonderen Wert darauf, auch im digitalen Raum Grenzen zu setzen. Zum Beispiel betrachte ich es als Grenzverletzung, wenn Teilnehmer Snapchat-Videos von anderen machen, ohne deren Einverständnis. Wir haben Talentshows, bei denen die Gruppen lustige Beiträge vorführen, aber das Filmen und Verbreiten ohne Erlaubnis ist nicht akzeptabel, da es die Privatsphäre verletzt und zu unangenehmen Situationen führen kann. Viele Jugendliche sind sich nicht bewusst, wie leichtfertig sie mit ihren Daten umgehen, daher ist es wichtig, ihnen das zu vermitteln und sie für den Schutz ihrer Privatsphäre zu sensibilisieren.

Mein Kollege und ich kommunizieren auch während der Freizeit unsere Erwartungen und Grenzen und ermutigen die Teilnehmer, einander zu respektieren und bei Problemen zu uns zu kommen. Wir behandeln alle Anliegen vertraulich und anonym, um ein offenes Gesprächsklima zu schaffen. Als Ansprechpartner sind wir nicht nur für grenzüberschreitendes Verhalten zuständig, sondern auch für schulische oder persönliche Probleme. Durch diese offene Kommunikation im kirchlichen Umfeld kommen oft Themen zur Sprache, die im Alltag vielleicht nicht angesprochen werden, und es ist schön zu sehen, wie Teilnehmer sich damit auseinandersetzen und Vertrauen fassen, um auch andere Anliegen anzusprechen. Es ist eine wichtige Rolle, Ansprechpartner für verschiedenste Themen zu sein und Teilnehmern eine vertrauensvolle Anlaufstelle zu bieten.

"Es erfordert ein Umdenken, anzuerkennen, dass es in Ordnung ist, wenn jemand nicht mitmachen will, und dass jeder seine freie Entscheidung hat."

Ist die Problematik für ältere Generationen manchmal schwerer nachzuvollziehen?

Auf jeden Fall gab es früher eine andere Dynamik, wo man vielleicht eher ausgeschlossen wurde, wenn man ein Spiel nicht spielen wollte. Diese Dynamik ist bei den Älteren, vor allem bei den über 50-Jährigen, oft noch vorhanden, weil sie eine andere Art von Jugendarbeit kennen. In meinem Tanzkurs zum Beispiel erlebe ich oft, dass sich ältere Teilnehmer wundern, wenn jemand eine Übung nicht mitmachen will. Es erfordert ein Umdenken, anzuerkennen, dass es in Ordnung ist, wenn jemand nicht mitmachen will, und dass jeder seine freie Entscheidung hat. Es geht darum, sich in die andere Person hineinzuversetzen und darüber nachzudenken, wie man sich fühlen würde, wenn man nicht mitmachen wollte. Bei unserem Schutzkonzept in der Gemeinschaft müssen sich auch viele ältere Mitglieder anpassen und ihre Vorstellungen davon, wie gemeinsame Zeit aussehen sollte, überdenken. Viele Aspekte sind zwar bekannt, aber vielleicht nicht immer präsent. Kommunikation ist hier entscheidend, besonders zwischen den Jugendleitern. Es ist wichtig, sich zurückzuziehen und einander Feedback zu geben, um Situationen zu verbessern und die Gruppendynamik anzupassen oder Gruppen zu trennen, wenn es nötig ist.

Was macht eine positive Gesprächskultur aus?

Zu einer positiven Gesprächskultur gehört es, Feedback auf eine konstruktive und respektvolle Weise zu geben. Wenn Feedback gemeinsam in einer offenen Runde gegeben wird und darauf geachtet wird, dass es nicht aggressiv oder verurteilend ist, sind die Menschen oft offener dafür. Es gibt viele Möglichkeiten, Feedback zu geben, zum Beispiel anonymisiert, um sicherzustellen, dass alle sich wohlfühlen und niemand angegriffen wird. In meiner Gemeinde und auch im kirchlichen Umfeld, sind die Menschen sehr offen für Veränderungen und bereit, sich anzupassen, um grenzverletzendes Verhalten zu verhindern. Niemand möchte solche Verhaltensweisen in seiner Gemeinde tolerieren. Als wir unser Konzept vorgestellt haben, gab es viel positives Feedback von der Gemeinde, die unsere Bemühungen unterstützt und mit uns zusammenarbeiten möchte, um sie umzusetzen.

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