Die Ergebnisse kreativen Schaffens von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung heißen "outsider art" oder "Art Brut", werden selten außerhalb von Wohnheimen gezeigt und spielen auf dem Kunstmarkt keine Rolle. Dabei seien gerade sie "extreme Individualisten, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus handeln, sich selbst reflektieren und in der Welt verorten", sagt Klaus Mecherlein nach jahrzehntelanger Erfahrung.

Mecherlein war es, der nicht zuletzt um "eine Plattform zu geben", für die Münchner Augustinum Stiftung den Europäischen Förderpreises für Malerei und Grafik im Kontext geistiger Behinderung ("euward") entwickelt hat. Dieser namentlich aus Europa und Award zusammengesetzte Kunstpreis hat sich seit seiner ersten Auslobung im Jahr 2000 zum renommiertesten internationalen Wettbewerb mit kontinentaler Reichweite gemausert. Inhaltlich will er nicht weniger als sich im Kontext der zeitgenössischen Kunst etablieren.

euward-Kunstpreis für Menschen mit Behinderungen

Das Münchner Haus der Kunst unterstützt diesen Anspruch, in dem die Schau der Preisträgerinnen, Preisträger und Nominierten fester Baustein im Jahresprogramm des renommierten Museums ist. Nicht 14 Tage im Treppenhaus einer Sparkassenfiliale - es darf die große Bühne sein, denn die Qualität der Exponate gebe das her. Die Gleichwertigkeit der Unterschiedlichkeiten, danach streben er und alle Beteiligten. Am Samstag nun hat die Jury in München getagt und die Preisträgerinnen und Preisträger 2023 gekürt.

Für die aktuelle neunte Ausgabe, die nach wie vor den Anspruch verfolgt, "eine Szene sichtbar zu machen, die abseits des Normalbetriebs, am Rande, im Dunkeln existiert", gab es 240 Einreichungen aus 25 Ländern. Eine Expertenkommission hatte 19 Künstlerinnen und Künstler auf die Shortlist gesetzt. Gestern gab die Jury in München ihre Entscheidungen bekannt. Samanah Atef aus Frankreich, Belén Sanchez aus Spanien und Desmond Tjon A Koy aus den Niederlanden haben das Rennen gemacht.

Sie erhalten eine Ausstellung ihrer Werke im Haus der Kunst und werden mit Geldpreisen und einem Katalog zu ihrem Werk im Gesamtwert von rund 25.000 Euro gefördert. Zur Vernissage im Mai 2024 wird die Platzierung in Anwesenheit der Ausgezeichneten bekannt gegeben, momentan ist die Reihung alphabetisch.

Carine Fol ist die Laudatorin der in Lyon lebenden Iranerin Atef. Die künstlerische Direktorin der Centrale in Brüssel lobt die "sehr persönliche und universell politische Arbeit, was oft eng verknüpft ist". Die Künstlerin arbeite "aus der Notwendigkeit ihre Fluchterlebnisse zu bewältigen". Auf Landkarten und Stadtpläne malt sie mit roten und schwarzen Filzstiften Figuren aus sehr langen Linien.

 

Belen Sanchez
Belen Sanchez
Belen Sanchez
Belen Sanchez
Desmond Tjon
Desmond Tjon
Desmond Tjon
Desmond Tjon
Samanah Atef
Samanah Atef

Stärke im Werk der Künstlerinnen und Künstler

Der Autor, Kurator und Kunstprofessor Colin D. Rhodes stellt Desmond Tjon A Koy vor. Eine "unglaubliche Stärke" macht er im Werk aus, das "Form und Text eng verwebe". Im selbst erschaffenen Universum kämpften Anti-Helden gegen Helden einerseits, während er andererseits Bilder der Black-Power-Bewegung und schwarzer Geschichte ganz klassisch mit Tinte auf Papier bringe.

Monika Jagdfeld leitet ein Zentrum für "outsider art" in St. Gallen. Dass sie Sanchez vorstellt, mag kein Zufall sein. "Einen ungewöhlich tiefen Einblick in psychische Ausnahmezustände" gewähre die Künstlerin, ihre Arbeit sei "ausgesprochen eigenständig". Nicht nur was die Vielfalt anbelange, Fotos, Collagen, Zeichnungen, Skulpturen, Videos, sondern auch dass sie "immer sie selbst sei, in allen ihren Figuren" sei bemerkenswert.

Am 16. Mai 2024 werden im Rahmen einer Vernissage alle Preisträgerinnen und Preisträger selbst sprechen. Zwar umgäben sich die noch nicht berühmten Künstlerinnen und Künstler gerne mit vertrauten Menschen, dass andere für oder über sie sprächen sei aber unüblich, sagt Samuel Bayer, der vonseiten des Augustinums alles rund um den Preis organisiert. Mit Deutsch, Englisch und einem Gebärdendolmetscher werde man diesmal wohl nicht auskommen - Farsi, Flämisch und Spanisch dürften eine neue Herausforderung sein. Wer dies erleben will oder einen beachtlichen Output an Textilkunst, Malerei, Schrift- und Bildkunst anschauen, kann die Ausstellung "euward9" vom 17. Mai bis 14. Juli 2024 in der Prinzregentenstraße besuchen.

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