Ich erinnere mich nicht mehr genau, wen Wolf-Dieter Poschmann im aktuellen Sportstudio vor einigen Jahren interviewte, ich weiß nur noch, dass der Interviewte in seiner Disziplin gerade alles gewonnen hatte, Olympia, Weltcup und Weltmeisterschaft, und Poschmann schließlich fragte: »Wie wollen Sie das im nächsten Jahr noch toppen?« Ich weiß auch nicht mehr, was der Interviewte geantwortet hat, aber diese Frage an einen »Alles-Gewinner« habe ich nicht vergessen. Sie bringt auf den Punkt, worum unsere Leistungsgesellschaft kreist: »Immer besser und immer mehr oder höher, weiter, schneller, kurz: um den Erfolg, genauer gesagt: um dessen ständige Steigerung. Es darf kein letztes Ziel, keinen Endpunkt geben.

Poschmann hätte auch fragen können: »Jetzt, wo Sie alles gewonnen haben, könnten Sie doch eigentlich aufhören oder es ruhiger angehen lassen.« Aber nein, er fragte nach der Steigerung, als sei es die Aufgabe des Athleten, bereits jetzt darüber Auskunft zu geben.

Kein Stillstand erlaubt

Die Leistungsgesellschaft, deren Verben »steigern« und »wachsen« sind, gerät ausgerechnet im »High-End-Bereich« ins Straucheln: Wer alles gewinnt und alle Rekorde bricht, das Steigern und Wachsen also perfektioniert hat, erscheint als Spielverderber. Es wird ihm keine Absolution, keine Erlösung zugesprochen, denn das zentrale Credo lautet: Es darf kein Ende der Leistungssteigerung geben, keinen Stillstand.

Der Sport ist zur Metapher dieser Gesellschaft des »schneller, höher, weiter« geworden. Der Werbeslogan eines Lebensmittelkonzerns bringt es auf den Punkt: »Jeden Tag ein bisschen besser«. Es geht nicht mehr um das gute Leben, sondern um das bessere Leben.

Der Komparativ, der ständige Leistungsabgleich, definiert den Sinn. Zufriedenheit, gar Selbstgenügsamkeit, ist in diesem Sinn Stillstand. Die Inszenierung des Komparativs sind die Tabellen, Listen, Kurven und Diagramme, mit denen wir uns und anderen jeden Tag die Welt erklären.

Der Körper wird zur Bühne des Selbst

Die »Fleischwerdung des Komparativs« in unserer Gesellschaft ist der Sport, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen global in der massenmedialen Inszenierung der Großereignisse »Olympiade« und »Fußballweltmeisterschaft«, zum anderen aber auch ganz individuell im Fitnessgedanken.

Er kam Ende des 19. Jahrhunderts auf - also zeitgleich mit den Olympischen Spielen der Neuzeit. Der Bau von großen Stadien und Arenen beginnt. Man kann diese Phänomene ganz sicher auch mit dem Nationalismus und einer Fortsetzung der Auseinandersetzung, ja des Kriegs mit anderen Mitteln deuten, so wie der niederländische Historiker und Kulturwissenschaftler Hermann W. von der Dunk in seiner monumentalen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aber das erklärt nicht, warum der Sport gerade nach der Überwindung des Nationalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen hat.

Es ist noch etwas anderes: Der Körper wird zur Bühne des Selbst. Es ist nicht die Nationalität, die einen Körper für andere zur Identifikationsfigur werden lässt, sondern seine Erscheinung und die Darbietung der Leistung. Der gestylte Körper präsentiert Werte wie Erfolg, Disziplin, Zuverlässigkeit, sexuelle Potenz, Wahrhaftigkeit und Selbstbewusstsein. Die kirchliche Wahrnehmung dieser Phänomene kennt meistens nur die unkritische Vereinnahmung von Großereignissen, »Public Viewing« im Gemeindehaus oder die individuelle Distanzierung.

Internet ermöglicht »Public Viewing« für Trainingserfolge

»Wer in der Midlife-Crisis zum verbissenen Langstreckenläufer wird, sucht seiner Sterblichkeit davonzulaufen«, schrieb vor 14 Jahren Hansjörg Hemminger in den Zeitzeichen zum Thema Körperkult. Wer auch immer mit Anfang 40 mit dem Langstreckenlauf beginnt, der nimmt sein Leben in die eigene Hand. Er/sie entscheidet für sich allein. Er/sie kontrolliert, wieviel Zeit er/sie investiert oder auch nicht. Und er wird seine Erfahrungen machen.

Schon Robert Musil lässt Ulrich - seinen Mann ohne Eigenschaften, aussprechen, was damals erst erahnbar ist, »dass Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das Einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie gehören.«

Neu hinzugekommen sind die Apps zur Trainingsdokumentation und die sozialen Netzwerke, die Trainingsergebnisse zu »publizieren«. In der virtuellen Welt wird ein öffentlicher Raum des Selbstvergleichs geschaffen. 200, 500 oder auch 1000 »Freunde« nehmen zur Kenntnis und kommentieren gegebenenfalls den Trainingsstand. Das stille sportliche Kämmerlein öffnet sich, macht Türen und Fenster auf und veranstaltet hier und da für die Facebookfreunde ein »Public Viewing« der Trainingserfolge.

Kein Gute-Werke-Konto

In säkularisierter Form tritt uns hier ein urprotestantischer Gedanke entgegen. Es gibt kein Genug, um das Sündenkonto auszugleichen, kein »es reicht jetzt!«. Kein Ablasshandel und kein Gute-Werke-Konto kann das Sündensaldo ausgleichen. In der säkularisierten Fassung gibt es aber keine (göttliche) Gnade mehr.

Der Saldo bleibt bestehen. Es ist auch nicht der »Mythos des Sisyphos«, der uns im Konzept der Selbstoptimierung entgegentritt - es ist eben keine Tretmühle, die nie zum Ziel kommt, aber ständig abgearbeitet werden will. Im Konzept der Selbstoptimierung gibt es keine Wiederholung, keinen Kreislauf des ImmerWieder, sondern nur immer wieder neue Ziele und neue Optimierungsstrategien.

Nun mag man einwenden, dass die Realität eine ganz andere Sprache spricht. Nimmt nicht die Bewegung ab und die Fettleibigkeit zu? 1998 hatte jeder fünfte Mann in Deutschland Adipositas, 2012 schon jeder vierte. Und im Kernland der Fitnessbewegung, den USA, ist die Situation noch dramatischer. Dort sind über 36 Prozent der Bevölkerung fettleibig, 1991 waren es 23 Prozent. Ist das Selbstoptimierungskonzept also nicht überall angekommen? Nein, ganz im Gegenteil.

Nicht »schlank sein« ist das Ziel, sondern »schlanker werden«

Denn das Paradoxe der Situation ist ja: Je tiefer der Einstiegspunkt, umso leichter lassen sich (theoretisch!) Optimierungen erzielen. Nicht »schlank sein« ist das Ziel, sondern »schlanker werden«.

Der Komparativ hat durchaus auch etwas Hoffnungsvolles. Jeder Tag bietet die Möglichkeit, nicht nur was das Körpergewicht und die Bewegung anbelangt, ein bisschen besser zu werden. Und es bietet jedem die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob heute so ein Tag ist. Das schafft die gesellschaftliche Dynamik, die das »höher, weiter, größer« als eine nicht hinterfragbare Interpretationsfolie Stunde für Stunde, Tag für Tag und Jahr für Jahr bestätigt.

Auch christlich geprägte Lebensratgeber haben es verstetigt. Da heißt es: »Machen Sie keine negativen Bilder oder Aussagen (Ich bin zu fett, Wie sehe ich bloß aus!), … Formulieren Sie stattdessen positiv: … Ich werde jeden Tag schöner« ...«

»Wettbewerbsfähigkeit« als Leitwort

Selbstbild und Weltbild gehen ganz ungezwungen Hand in Hand. Die Brille, mit der das Ich und die Welt betrachtet werden, ist ein und dieselbe, ganz egal, ob es darum geht, das eigene Leben »einfacher« zu machen und »ent-krampft«, »ent-schlackt und ent-spannt« oder ob man auf den globalen Wettbewerb schaut, bei dem auch schon einmal ganze Staaten beim »Survival of the Fittest« unter die Räder kommen können.

»Wettbewerbsfähigkeit« wurde längst zum unhinterfragten Leitwort des politischen Handelns. Der Satz »Gott hat keine anderen Hände als die unseren« (um die Welt zu verbessern) ist das theologische Gegenstück dazu. Allerdings bleibt die Welt nach all unserer Erkenntnis und Erfahrung immer erlösungsbedürftig. Selbstoptimierungsprogramme können in dieser Hinsicht durchaus so etwas wie Beschäftigungstherapie sein.

»Hans im Glück« als Gegenmodell

Der Soziologe Max Weber (1864-1920) hat es in seiner Schrift »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« so ausgedrückt: Gott hilft dem, der sich selbst hilft. Das ist nichts anderes als das, was wir heute unter Selbstoptimierung verstehen und was Lebensratgeber den Menschen möglichst niederschwellig nahezubringen versuchen und was Wolf-Dieter Poschmann am oberen Ende der Leistungsskala noch so vehement vom erfolgsgekrönten Spitzensportler einfordert. Im Programm der Selbstoptimierung gibt es keine Ruhe und keine Erlösung. In der Welt des Komparativs regiert der Geist des Wettbewerbs. Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft erscheint da wie eine natürliche Folge.

Das Gegenmodell ist die Geschichte vom »Hans im Glück«. Sieben Jahre hat Hans hart gearbeitet, und auf dem Weg nach Hause löst sich sein gerechter Lohn, ein Klumpen Gold, buchstäblich im Wasser auf. Eigentlich eine klassische Geschichte des Scheiterns. Sie könnte - zeitgeschichtlich angepasst - auch in einer Reality-TV-Serie wie »Raus aus den Schulden« erzählt werden - wenn da das Ende nicht wäre.

Hans fällt seiner Mutter um den Hals und ruft aus, dass er der glücklichste Mensch auf der Welt ist, entledigt aller Sorgen. Kein Komparativ, kein Vergleich. Hier regiert nur noch der Superlativ. An diesem Zustand gibt es nichts mehr zu verbessern und zu verändern.

»Hans ist ein gesegneter Mensch«

Der Soziologe Christoph Kucklick sieht es so: »Die Weisheit des Hans im Glück ist die Weisheit des Sonntags, jenes Tages also, der nur für sich selbst steht und keinerlei ökonomischen Zweck erfüllt. Sechs Tage in der Woche bestehen aus Mühe und Arbeit, Stress und Hektik. Am siebten Tag aber darf sich der Mensch im untätigen Dasein daran erinnern, dass er selbst einen Lebenswert hat, den er sich nicht verdienen muss, ja den er sich gar nicht verdienen kann. Hans muss nichts heimschleppen, er muss nichts leisten, er weiß: Ich darf leben, so wie ich bin. Ich werde geliebt, weil es mich gibt. Hans ist nicht korrumpierbar, er trägt den Sonntag in sich. Das ist sein Glück und sein Erfolg. Um seine Zukunft muss sich niemand Sorgen machen. Man könnte auch sagen: Hans ist ein gesegneter Mensch.«

Der Hans im Glück ist das Gegenmodell zu allen Lebenskonzepten der Selbstoptimierung und in der Geschichte frei von jeder Sünde. Man muss sich vor Augen führen, in welcher Szene das Programm der Selbstoptimierung seinen Ursprung hat: Im Blick Kains auf den Altar seines Bruders Abel. Das ist der »Urvergleich«. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Kain braucht für die Selbstoptimierung seinen Bruder Abel nicht mehr. Es reicht ihm ein Spiegel. Oder ist es doch eine Webcam und eine App?

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